News - Glaube im Alltag: Warum ich bleibe

Warum ich bleibe


Glaube im Alltag erlebt von Pater Martin Stark SJ,
Kirchenrektor von St. Michael, München


Jeder von uns weiß, wie es sich anfühlt, an den Fehlern der Kirche zu leiden. Und jeder kennt Menschen, die es nicht mehr ausgehalten haben, die es hinausgetrieben hat. Lange war ich es gewohnt, dass mir in Gesprächen schnell die ganzen Sünden der Kirche um die Ohren gehauen werden. Seit einiger Zeit werde ich direkt gefragt, warum ich denn immer noch dazu gehöre, warum ich aus diesem Laden nicht schon längst ausgetreten bin, wie ich denn eine solche Institution mit ruhigem Gewissen als Priester und Amtsträger repräsentieren kann.

Wenn ich antworten kann, erzähle ich von Jesu Worten: „Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ Es gibt einen ähnlichen Satz aus einem wichtigen Text des Jesuitenordens, der zusammenfasst, was es heißt, Jesuit zu sein. „Erfahren, dass man als Sünder trotzdem zum Gefährten Jesu berufen ist.“ Ich meine, dies ist die Berufung zum Christsein.

Jesus kennt unsere Herzen. Deswegen ist seine Botschaft: Barmherzigkeit. Es gibt radikale Kehrtwendungen, wenn Menschen ihr Leben von einem Tag auf den andern ändern. Aber es gibt auch lästige Gewohnheiten, die man nicht so einfach abschütteln kann. Es gibt verfahrene Situationen, aus denen man aus eigener Kraft nicht herauskommt. Es gibt die Härte des Herzens, die sich nicht mit einem Fingerschnipsen in Güte und Milde verwandeln lässt.

Aber genau da erweist sich Gottes Barmherzigkeit. Deswegen gehören die Wachstumsgleichnisse zur Botschaft Jesu und ergänzen seine Forderung nach der radikalen Kehrtwendung: der Samen, der Zeit braucht; das kleine Senfkorn, das groß wird; das Unkraut, das man nicht vorschnell ausreißen darf. Das Reich Gottes muss wachsen! Gott hat Geduld mit uns und lässt uns Zeit zu reifen. Wir dürfen es ihm gleichtun und Geduld haben mit uns und miteinander.

Jesu unbedingte Liebe ist größer als unsere Leistung. Sich als Sünder zu bekennen, bietet die Chance, von Jesus gerufen und in Anspruch genommen zu werden. Diejenigen, die ihr Leben in den Augen anderer verfehlt haben, die auf der Suche sind nach Erfüllung, nach Sinn, nach Liebe, die wissen, wie sehr sie angewiesen sind auf Hilfe, auf Vergebung, verstehen diese Worte: „Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“

Diese Botschaft der unbedingten Liebe Jesu und der österlichen Freiheit und Hoffnung verdanke ich der Kirche. Sie ist ein Ort des geduldigen Wachsens, der Suchenden offensteht, weil sie selbst suchend unterwegs ist, weil sie selbst immer Kirche der Sünder ist und Kirche der Heiligen - Großer Heiliger wie Franziskus, Ignatius oder Mutter Teresa, die auch an der Kirche ihrer Zeit gelitten haben, aber auch unzähliger kleiner Heiligen des Alltags. Bei dieser gläubigen Gemeinde bleibe ich, die mir Jesus gegenwärtig werden lässt, auf vielfältige Weise, tröstlich und tragend. Sie ist der Acker, auf dem der Same aufgeht und Senfkörner zu Bäumen werden, die sich nach dem Himmel ausstrecken.

„Lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“, sagt Jesus. Wir dürfen lernen. Lernen von Ihm. Als Sünder, die Er zu Seinen Gefährten beruft.

P. Martin Stark SJ


Der Text ist freundlicherweise übernommen aus der Münchner Kirchenzeitung vom 18. Juni 2023 / Nr. 25.


P. Martin Stark SJ
Kirchenrektor von St. Michael
Superior der Jesuitenkommunität
martin.stark(at)jesuiten.org

Foto: Robert Kiderle