Zum Davonlaufen
Glaube im Alltag erlebt von Pater Martin Stark SJ,
Kirchenrektor von St. Michael, München
Warum nicht davonlaufen? Eine Antwort darauf ist nicht so leicht. Was soll ich jemandem sagen, der von seinen Mitchristen keine Barmherzigkeit oder Liebe erfährt? Soll ich sagen, dass es in der Kirche auch andere gibt? Dass Anspruch und Wirklichkeit immer auseinanderklaffen? Dass die Botschaft des Evangeliums größer ist als das Fehlverhalten von einigen? All das stimmt zwar, aber reicht das?
Ist denn nicht Verbitterung angebracht, wenn diejenigen, die von der Menschenfreundlichkeit Gottes reden, genau das Gegenteil ausstrahlen? Ist es nicht ein Skandal, wenn in der Kirche, die die Liebe predigt, das pure Hauen und Stechen ausgebrochen ist; wenn Christen, die den barmherzigen Samariter von klein auf kennen, wegsehen, wenn ihr Eintreten für Schwächere gefordert wäre? Was sollte einen in der Kirche halten, wenn man den Ärger nicht länger herunterschlucken kann, sondern seine ganze Enttäuschung und Wut nur noch herausschreien möchte?
Gott sei Dank erzählt die Bibel von Menschen, die maßlos enttäuscht wurden, von anderen Menschen und von Gott. Und die doch ihren Schmerz nicht hinunterschlucken, sondern mit deutlichen Worten zur Sprache bringen. Paulus fällt mir ein, der Zukunftsangst kannte im Gefängnis und nicht wusste, ob er da jemals lebend wieder herauskommen würde. Als er dort Schlimmes aus Philippi hört, der ersten Gemeinde, die er in Europa gegründet hatte, von Streit, Eitelkeit und Egoismus, mahnt er deutlich, aber ruhig und liebevoll, nicht etwa weil er ein dickes Fell hatte. Sondern, weil er an Jesus Christus dachte. Vielleicht daran, wie Jesus vor Jerusalem auf einem Hügel stand und das maßlose Unrecht sah, das dort im Namen Gottes geschah. Er hätte allen Grund gehabt, die Menschen zu beschimpfen, zu verfluchen und ihnen den Rücken zuzudrehen. Aber Jesus hat geweint und ist geblieben. Mitten hinein ist er gegangen, um den Menschen zu zeigen, was die Sintflut und alle Gerichtspredigten vorher nicht geschafft hatten. Er hat nicht verurteilt, sondern Gottes Barmherzigkeit gelebt und die Menschen auf diese Weise verändert. Das neue Gebot, das er seinen Jüngern beim Abendmahl hinterließ, war ihnen die Füße zu waschen, sogar dem, der ihn verriet. Denen zu vergeben, die ihn misshandelten und töteten.
Davon schreibt Paulus seinen Philippern: Nur die Begegnung mit Christus vermag Menschen zu ändern und sonst nichts. Seid so gesinnt, wie er es war! Seht mit seinen Augen! Spürt mit seinem Herzen! Denkt in seinen Gedanken! Bleibt ihm nahe im Gebet, in seinem Wort und Sakrament! Dann wird Gemeinschaft, Trost, Liebe, Einigkeit und Demut wachsen.
Ich selbst lebe bis heute daraus, dass Jesus nicht davongelaufen ist. Und dass er mich nicht zum Davonlaufen findet, obwohl er und andere genügend schlechte Erfahrung mit mir machen; obwohl auch mein Glaube oftmals an einem ziemlich dünnen Faden hängt.
P. Martin Stark SJ
Der Text ist freundlicherweise übernommen aus der Münchner Kirchenzeitung vom 12. März 2023 / Nr. 11.
P. Martin Stark SJ
Kirchenrektor von St. Michael
Superior der Jesuitenkommunität
martin.stark(at)jesuiten.org
Foto: Robert Kiderle