Geistlicher Impuls Juni 2022
Das himmlische Brot
Beten wir das Vaterunser bei der Bitte um das tägliche Brot in einer falschen Übersetzung? Im Griechischen steht nämlich bei Matthäus (6,7) und Lukas (11,3) nicht „tägliches Brot“, sondern ein Adjektiv, das nur an dieser Stelle im Neuen Testament auftaucht: epiusios, zu Deutsch „darüber hinausseiend“, „überwesentlich“. „Supersubstantialis“ hat es Hieronymus ins Lateinische übersetzt (Mt 6,7).
Das ganze Leben Jesu ist in dem einem Satz zusammengefasst: „Die Königsherrschaft Gottes ist nahe.“ (Mk 1,15) Das Vaterunser ist betender Ausdruck dieser grundlegenden Verkündigung: Dass der heilige Wille des Vaters Wirklichkeit werde – hier und jetzt und einmal für immer. Das Gebet Jesu bittet nicht um die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, es soll vielmehr den Beter, und damit die Gegenwart verwandeln. Gleichzeitig weist es über sich hinaus auf Gottes Zukunft.
Jesus ist in der jüdischen Tradition der Pesachfeier und der Erzählungen vom Wüstenzug aufgewachsen. Beide Male ist ein besonderes Brot Sinnträger: Das Ungesäuerte Brot ist beim Pesach Nahrung, um den Aufbruch mit dem Befreiergott zu wagen. In der Wüste zeigt Gott seine tägliche Sorge für sein Volk durch das Manna. Deshalb wählte auch Jesus beim Abendmahl Brot als Deutemedium für seine bleibende Präsenz. Wer im Vaterunser um das tägliche Brot bittet, sollte mithören: Ich bitte hier um den Geist Jesu, um seine Präsenz als himmlisches Brot, wie es die große Brotrede bei Johannes entfaltet (Joh 6).
Pfingsten und Fronleichnam, die beiden Feste im Juni, sind eng verklammert. Täglich müssen wir als Pilgernde um den Gottesgeist und um die geheimnisvolle Gegenwart Jesu beten. Nur so kann die Königsherrschaft Gottes heute Wirklichkeit werden – durch Beten und durch das himmlische Brot, das die Hoffnung nährt.
P. Karl Kern SJ
P. Karl Kern SJ
Seelsorger
Kirchenrektor St. Michael
kirchenrektor.st-michael(at)jesuiten.org