News - Glaube im Alltag: als wahrhaft lebendige Menschen

Glaube im Alltag

Als wahrhaft lebendige Menschen

Unser Gottvertrauen sollte eine umfassende Grundhaltung sein. Denn wahrer Glaube will uns ganz durchdringen, vor allem auch unsere sexuellen und aggressiven Grundanlagen. ,,Aggredi" heißt „an etwas herangehen". Jeder Mensch muss ein in sich stehendes, umrissenes Ich sein, um aktiv, kreativ und, wenn es sein muss, konfrontativ an Dinge und Menschen: heranzugehen: Das ist der positive Sinn der Aggressivität. Neben der Abgrenzung haben wir alle zugleich das Bedürfnis nach Dazugehörigkeit, ja Einheit mit anderen. Die Grundkraft, Vereinigung im weiten Sinn mit anderen zu leben, ist die Sexualität. Jesus hat in seinem Leben die Kraft der liebevollen Zuwendung zu anderen bis zur Hingabe seines Lebens vorgelebt. Gleichzeitig hat er – auch das zeigt der Kreuzestod – eine bis zum Äußersten gehende Konfliktfähigkeit vor Augen geführt, die aus innerer Freiheit erwuchs.

Das Geheimnis seiner Lebenskraft liegt im restlosen Vertrauen auf den väterlichen und mütterlichen Gott. Jesus verkündigt einen mütterlichen „Abba". ,,Abba", Vater, ist Kinder- und Ehrfurchtsname in einem. Diese direkte Anrede Gottes signalisiert sowohl innige Verbundenheit wie Ehrfurcht. Der „Abba" Jesu ähnelt gar nicht einem orientalischen Patriarchen. Er trägt weiche und weibliche Züge. Er erbarme sich. Er verzeihe. Er erhört die Bitten der Seinen und sorgt für sie. Das von der Wortbedeutung her männliche Gottesbild – ,,Abba" – trägt ausgesprochen weibliche Züge.

Jesus lässt in seiner Verkündigung neben dem männlichen auch ein weibliches Bild für Gott anklingen. Er sieht sich als Gesandten der göttlichen Weisheit. Die Weisheit sendet ihre Boten, Johannes den Täufer und Jesus. Beide werden abgelehnt, der eine als Asket, der andere als „Fresser und Weinsäufer" (Lk 7,34f). Die Weisheit hat schon immer Propheten gesandt, doch sie wurden misshandelt und getötet. Deshalb wird ein strenges Gericht angekündigt (Lk 11,49ff).

Die weibliche Weisheit Gottes erscheint als mütterliche Liebe, aber als eine Liebe, die den Konflikt riskiert und die sogar in Gerichtsandrohung umschlägt.

So hat Gott als Vater „mütterliche" Züge, als Weisheit und Mutter „väterliche" Züge. Der Gott Jesu Christi umfasst beides. Gott ist jedoch immer mehr, als die männlichen und weiblichen Bilder sagen können. Als geheimnisvolles Du ist er die Mitte von männlich-weiblicher Urkraft. Er ist Ursprung und immerwährender Quell von „Leben". Die Gottesverkündigung Jesu läuft darauf hinaus, dass wir das „Leben in Fülle" (Joh 10,10) haben sollen. Als wahrhaft lebendige Menschen sind wir eins mit jenem Gott, der „Geist" (Joh 4,24) ist und alle Bilder übersteigt.

Glaube im Alltag heißt: mit unseren aggressiven und sexuellen Grundanlagen den Gott der Liebe der Welt heute nahebringen – als wahrhaft lebendige Menschen.


Der Text ist freundlicherweise übernommen aus der Münchner Kirchenzeitung vom 23. Januar 2022 / Nr. 4.