News - Impuls Februar 2023

Halb leer oder halb voll?

Es ist Ansichtssache: Ist das Glas halb leer oder halb voll? Es ist auch eine Frage der Perspektive: Freue ich mich, dass das Glas noch zur Hälfte gefüllt ist oder beschwere ich mich, dass es halb leer ist? Ganz abgesehen von der Flasche!

Die Reihen haben sich auch in St. Michael gelichtet. Besucher bleiben weg. Entfremdungen spielen eine Rolle, veränderte Gewohnheiten, dem inneren Exil folgt der äußere Exodus. Corona kommt dazu. Und die Lage der Kirche: in Deutschland und weltweit. Der „Synodale Weg“ verstört viele. Und der universalkirchliche synodale Prozess wird als „Beschäftigungstherapie“ oder als „Partizipationssimulation“ diffamiert – der Papst entscheide letztlich doch im Alleingang.

Auch wenn unsere Gottesdienste weitaus weniger besucht werden als früher, selbst an Sonntagen, selbst wenn Bach, Mozart oder Rheinberger oder Fauré auf dem Programm stehen: Wir freuen uns über alle, die kommen!

Seit Jahren wird vom „Ende der Volkskirche“ gesprochen. Davon, dass Christen (wieder) eine Minderheit werden. Dass wir vom „Traditionschristentum“, das ein „Nachwuchschristentum“ war (in das man ganz selbstverständlich und ungefragt hineingetauft wurde), zum „Entscheidungschristentum“ kommen.

Die Alternative lautet nicht: Personale Gotteserfahrung oder Gottesdienst? Gottesdienst ist „Verdichtung“: gemeinsame Feier der Mysterien des Lebens Jesu. Es geht nicht ums „Gesundschrumpfen“, das restaurative Stimmen befürworten: Lieber (und ausschließlich) 500 „Hundertprozentige“ als 1000 „Halbentschiedene“, die abschätzig als „Taufscheinchristen“ bezeichnet werden. Karl Rahner SJ hat in seinem Buch „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ davor gewarnt: Wer die Vorstellung der „kleinen Herde“ propagiere, optiere für eine „kleinhäuslerische Sektenmentalität“.

Christliches Leben in Entschiedenheit bleibt anspruchsvoll. Aber Entschiedenheit ist etwas anderes als Fanatismus oder „Linientreue“. Natürlich ist eine volle Kirche „erhebender“ als eine halbleere. Aber wir müssen uns auch einüben in einen nüchternen Realismus.

Andreas R. Batlogg SJ

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P. Andreas Batlogg SJ
Seelsorger, geistlicher Mitarbeiter der Glaubensorientierung
andreas.batlogg(at)jesuiten.org
https://andreas-batlogg.de

Foto: Christian Ender